Das hier ist ein Tatsachenbericht über das Lager Kara-Tepe, in dem derzeit etwas über 8000 Menschen untergebracht sind. Er schildert den Tagesablauf und die damit verbundenen Eindrücke aus der Hilfsaktion, die gemeinsam mit Doro Blancke kurzfristig ins Leben gerufen wurde.
Samstag, 31. Oktober
Wer geglaubt hat, dass die Nachrichten aus Lesbos besser würden, hat sich leider getäuscht. Die Situation ist fast genauso schlimm wie vor vier Wochen. Inzwischen werden die von Home for all gelieferten Mahlzeiten immer mehr. Derzeit müssen auch jene Menschen, die in Schubhaft sind, versorgt werden oder auch auch Familien, die einen ganzen Tag vor einer Behörde auf ein Interview warten müssen ...
Wir haben daher heute sofort wieder 2000€ beim Fleischhauer als Vorschuss für seine Lieferungen bezahlt und auch etliche Kisten Pelati und Tomatensauce besorgt. Leider nicht genug, aber Nachschub kommt nächste Woche.
Duschen gibt es im Lager - fast möchte man sagen natürlich - nach wie vor nicht.
Aber während unserer Abwesenheit hat Home for all ein tolles System für die Ausgabe der Mahlzeiten im Lager und anderer wichtiger Dinge erarbeitet, sodass die Verteilung super und punktgenau funktioniert.
Die Behörden sind derzeit sehr streng, es dürfen nur noch ganz wenige NGOs ins Lager, filmen und fotografieren ist streng verboten.
Tagsüber ist es zum Glück noch halbwegs warm, aber schon um 16h wird es empfindlich kühl. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie kalt es selbst jetzt schon nachts bei Wind oder Regen in den nicht winterfesten Zelten wird.
Sonntag, 1.November
Weil heute Sonntag ist und mir das auch wichtig ist: Lesbos ist eine wunderschöne Insel (auch wenn wir noch kaum etwas gesehen haben). Die Menschen kämpfen hier hart ums tägliche Auskommen. Corona, die Medienberichte zu Moria, die allgemeine wirtschaftliche Situation haben ihr Übriges getan, dass der Tourismus hier ziemlich dramatisch eingebrochen ist. Aber die meisten Menschen sind freundlich, hilfsbereit und sehr nett zu NGO-Mitgliedern. Es gibt keine Bettenburgen, keine Massenabfertigungen, aber dafür sehr viele schöne Wanderwege, kleine Dörfer, hübsche originale Tavernen. Also die Menschen hier haben es genauso verdient, dass man sie respektiert und unterstützt. Auch das ist ein Grund, warum wir möglichst viel direkt hier vor Ort besorgen, auch wenn es zB über große internationale Händler vielleicht ein paar Euro billiger wäre (so groß ist der Unterschied aber auch gar nicht).
Heute ist im Lager quasi „Ruhetag“, dh es darf niemand rein oder raus. Aber einer unserer Freunde, den Doro letztes Mal kennengelernt hat, hilft uns heute, die genaue Zahl der Babys zu eruieren. Es gibt eine Idee, wie wir helfen können zu verhindern, das schon Neugeborene auf dem nackten Boden schlafen müssen. Doch davon in den nächsten Tagen mehr.
Montag, 2.November
Und wieder ein Abend, an dem ich völlig fassungslos nach 11 Stunden freiwilliger Arbeit auf unserer Terrasse sitze. Nein, so soll kein Mensch leben müssen, keine Frau, kein Mann und schon gar keine Kinder. Nichts ist besser geworden im Lager Kara Tepe. Ich glaube ja allen großen NGOs, dass sie sich ehrlich bemühen, aber wenn es am 8.September brennt und es am 2. November im neuen Lager noch immer keine Duschen gibt, dann kann mir niemand erklären, dass das in Ordnung ist.
In den Nächten ist es inzwischen bitterkalt, auch wenn tagsüber die Sonne noch angenehm warm scheint. Aber von winterfesten Zelten habe ich heute nach wie vor nichts gesehen. Mag sein, dass es stimmt, dass irgendwo ein paar aufgebaut werden, aber mehr als 8000 Menschen haben einfach noch immer keinen warmen Platz zum Schlafen, sondern allerhöchstens Europaletten als Untergrund und im besten Fall ein paar dünne Fetzen darüber. Als einzigen Schutz gegen die klamme Kälte, die vom Boden direkt neben dem Meer aufsteigt. Und ihr Dach über dem Kopf ist ein windschiefes dünnes Zelt.
Heute waren wir mit der Essensverteilung aus verschiedenen Gründen ziemlich spät dran. Das hatte zur Folge, dass ich mich plötzlich in fast totaler Finsternis inmitten des Lagers befand. Nicht allein, sondern ohnedies in ortskundiger Begleitung. Aber erstmals habe ich für einen kurzen Moment das Gefühl bekommen oder besser gesagt erahnt, wie es sein muss, hier alleine oder auch zu zweit oder als Familie schutzlos seine Tage und Nächte zu verbringen. Kein schönes Gefühl, glaubt es mir. Straßenbeleuchtung bzw Strom gibt es nur entlang der Hauptwege, in dem Gewurl aus Zelten, Befestigungsdrähten, Wäscheleinen, Sandsäcken gegen den Regen, Steinen und Geröll leuchten höchstens hier und da ein paar kleine Solarleuchten, ansonsten ist es komplett dunkel. Manchmal brennen zwischen den Zelten kleine Feuer, nicht erlaubt, aber offenbar doch toleriert. Und irgendwo müssen die Menschen ja auch zumindest Wasser für Babynahrung erwärmen können.
Und immer wieder die Kinder, so viele kleine Kinder, die uns umringen und mit den traurigsten Augen der Welt um ein bisschen Zuwendung bitten.
Ich weiß, ich wiederhole mich und werde es noch oft tun: diese Lager gehören evakuiert! Sofort! Ein Europa, das derlei zulässt, ist nicht mein Europa!
Mittwoch, 4.November
Als wir am Nachmittag ins Lager kamen, kam erstmals so richtig Wind auf. Noch regnet es nicht, dafür bläst es unheimlich viel Staub durchs Lager. Viele Menschen sprechen uns an, dass sie frieren. Und dabei hat der Winter noch nicht einmal richtig begonnen. Allerdings ist für die nächsten Tage Regen angesagt. Wir haben einige Teams im Lager, die derzeit den konkreten Bedarf der Menschen an warmer Kleidung erheben. Alle arbeiten so schnell es geht, aber rund 8000 Menschen mit passenden Wintersachen zu versorgen, dauert seine Zeit.
Zusätzlich zu den Menschen mit besonderen Ernährungsbedürfnissen wie zb Diabetiker, versorgt Home for all auch jene Asylwerber, die vor der Behörde zum Teil 12 Stunden auf ihr Interview warten. Die Menschen werden in der Früh dort hingebracht und am Abend bzw in der Nacht wieder retour - dadurch haben sie aber die offizielle Essenausgabe verpasst... Manchmal durften sie auch an den Tagen davor das Lager nicht verlassen um etwas einzukaufen, somit stehen sie stundenlang hungrig und durstig vor der Behörde und warten auf ihre Einvernahme.
Es gibt leider auch etliche Schubhäftlinge im Polizeigefängnis von Mytileni - die sollten eigentlich vom offiziellen „Behörden-Caterer“ versorgt werden. Meistens bleibt es aber beim „sollten“.... Ohne Home for all blieben auch diese Menschen oft tagelang hungrig...
Und immer wieder muss ich mich, wenn ich das unglaubliche Leid der Menschen sehe, daran erinnern, dass wir im reichen Europa sind und nicht in einem bitterarmen Dritte Welt Land! Egal, wie man es dreht und wendet, die Situation in Kara Tepe ist und bleibt unerträglich und ist eine Schande für uns alle!
Aber auch eine sehr berührende Geschichte soll nicht unerwähnt bleiben: als unsere Dolmetscher (alles selbst Asylwerber) vom schrecklichen Terror in Wien gehört haben, haben sie alle ihr großes Mitgefühl geäußert: „Wir kennen das aus Afghanistan, wie furchtbar, dass auch euch dieser schreckliche Terror treffen muss.“ Und dann fühlen wir uns mehr als beschämt, wenn Menschen, die fast von der ganzen Welt vergessen wurden, dennoch Mitgefühl mit uns zeigen, denen es trotz allem Grauen und aller Trauer noch immer unendlich viel besser geht.
Donnerstag, 5. November
So, jetzt also auch hier: Lockdown ab Samstag. Für die Menschen im Lager ist das eine Katastrophe. Niemand darf raus und nur sehr wenige Organisationen rein. Dh natürlich auch, dass sie sich kein bisschen zusätzliche Nahrung kaufen können und wochenlang nur die eine Mahlzeit vom offiziellen Caterer bekommen werden.
Für uns bedeutet das hektische zwei Tage. Wir versuchen so viel wie möglich an wichtigen Dingen zu besorgen, wie zum Beispiel Schulmaterial, warme Socken, Wintersachen usw., weil ab Samstag fast keine Geschäfte mehr offen haben werden.
Daneben überlegen wir, wie wir es organisieren können, möglichst vielen Menschen im Lager etwas zusätzliche Nahrung während der kommenden harten Wochen zukommen zu lassen. Und natürlich sind auch in Griechenland die Hygieneregeln derzeit besonders streng, dh in der Küche dürfen nur wenige Menschen arbeiten. Danach muss alles so rasch wie möglich lieferfertig gemacht werden, da wir bei Einbruch der Dunkelheit um 18h auch wieder aus dem Lager draußen sein sollten.
Außerdem haben wir heute um €2000,- Saatgut bezahlt. Home for all hat nämlich eine kleine Farm gemietet - „Homeland“. Dort finden nicht nur einige Asylberechtigte fair bezahlte Arbeit, sondern es werden auch eigenes Gemüse und Salat angebaut, die dann natürlich auch billiger sind, als wenn täglich riesige Mengen eingekauft werden müssen. Und dank des Klimas hier, können etliche Sorten auch nahezu ganzjährig angebaut werden.
Während ich das hier in unserer Unterkunft schreibe, versuche ich mir vorzustellen, wie die Menschen im Lager wohl die nächsten Wochen überstehen werden. Das Verbot, das Lager zu verlassen bedeutet auch einen noch massiveren Verlust jeglicher Privatsphäre. Keine Möglichkeit mehr, einfach irgendwohin alleine mit der Familie zu gehen. Irgendwo alleine zu sitzen. Oder sich vielleicht einmal ein Stück besseres Brot zu gönnen oder eine Flasche Milch. Immer nur in den elenden Zuständen des Lagers gefangen sein, 24 Stunden am Tag. Und vergessen von der Welt(politik)...
Dank eurer Spenden und Unterstützung können wir aber dennoch zumindest ein bisschen etwas tun, um das Leid der Menschen hier ein ganz klein wenig zu verringern. Dafür aus ganzem Herzen ein riesiges Dankeschön! Wir machen weiter und geben nicht auf, bis diese Lager der Schande aufgelöst werden!
Samstag, 7. November
Manchmal möchte man einfach nur irgendwo sitzen und heulen. Die Menschen, die jetzt rund um die Uhr im Lager eingesperrt sind, leiden Hunger. Die meisten Kinder haben nicht einmal Blöcke zum Schreiben oder Zeichnen, viele nach wie vor nur Sommersandalen. Es fehlt einfach an allem. Wir verteilen mit Home for all täglich, was nur geht - von Essen über Schulmaterial für, von Lagerinsassen selbst organisierten, Schulunterricht, Windeln für Neugeborene, Binden für Frauen und es ist immer zu wenig. Egal, was wir tun. Es wird immer nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein, solange dieses und andere Elendslager nicht endgültig aufgelöst sind und die Menschen in menschenwürdigen Häusern untergebracht sind!
Heute hat mir eine afghanische Freundin ein Foto eines Babys mit offenen Wunden geschickt, die vom Arzt hier verschriebene Salbe nützt gar nichts, das Baby leidet. Jetzt versuchen wir über Österreich eine Lösung zu finden, wie man dem Kind helfen könnte.
Im Lager ist zwar überall jede Menge Polizei zu sehen, dafür aber kaum noch Helfer. Die einen dürfen nicht rein, die andern wollen nicht rein und offizielle Campangestellte, die zur Unterstützung da wären, gibt’s offenbar sowieso nicht. Aber wir sind sehr dankbar, dass unsere NGO Home for all eine offizielle Akreditierung hat und wir deshalb als einige von wenigen täglich ins Lager dürfen und eure Hilfe somit wirklich direkt bei den Menschen ankommt.
Und bei uns erzählen Politiker, die in ihren gemütlich geheizten Villen über den Lockdown räsonieren, es sei eh schon besser.
Nein, ist es nicht. Es ist schlimm wie eh und je oder noch schlimmer, als Moria es war. Und es ist eine verdammte Schande!
Gestern haben wir vor dem Lockdown noch vieles besorgt, was wir in den nächsten Tagen verteilen werden, von Socken, Unterwäsche bis zu Notizheften für die Schulkinder.
Wir machen natürlich weiter. Jede noch so kleine Hilfe macht das Leben zumindest eines Kindes, eines Babys oder einer hungrigen Familie besser. Und ist ein winziger Hoffnungsschimmer am Horizont für viele.
Aber das alles müsste nicht so sein! Es ist nicht notwendig, Menschen im reichen Europa hungern und frieren zu lassen. Das ist reine Mutwilligkeit. Aber lasst uns das bitte nicht schweigend zur Kenntnis nehmen! Geben wir nicht auf! Die Menschen hier haben es genau wie jeder von uns verdient, menschenwürdig behandelt zu werden.
Sonntag, 8. November
Es gibt auch gute Nachrichten aus Lesbos. Dank der grosszügigen Unterstützung des Vereins Pandesma aus Baden bei Wien ist es gelungen, dass Home for all eine Wohnung für ein Jahr für eine asylberechtigte syrische Familie auf Lesbos mieten kann. Asylberechtigte bekommen hier keinerlei staatliche Unterstützung. Ohne die Hilfe Privater stehen sie tatsächlich auf der Straße - ohne Job keine Wohnung , ohne Wohnung und Steuernummer kein Job. Ein Teufelskreis. Sprachkurse gibt es auch nur vereinzelt.
Wir sind sehr froh, dass Mustafa, Youssef, Younis sowie Baby Linda und die Eltern Daria und Abdo dieses Schicksal erspart bleibt und sie nun einen sicheren Platz zum Wohnen haben, bis sie auf eigenen Beinen stehen können.
Ich durfte die Familie kurz vor dem Lockdown kennenlernen. Vor allem der älteste Sohn, der achtjährige Mustafa ist ein echter Herzensbrecher. Er spricht fließend Griechisch, gut Englisch und natürlich Arabisch. Wir sind überzeugt, dass sie alle ihren Weg machen werden und bald auch ihren Teil für eine gute Zukunft Griechenlands beitragen werden. Und dass das mit österreichischer Hilfe des österreichischen Vereins Pandesma möglich ist, macht uns auch ein klein wenig stolz. Was die europäischen Regierungen nicht schaffen, schafft die österreichische Zivilgesellschaft! Man muss es nur wollen, dann funktioniert Hilfe vor Ort! Ein ganz besonderes Dankeschön an Professor Hubert Mitter und Sonja Mitter, die dies durch ihr zutiefst menschliches Engagement erst möglich gemacht haben!
Dienstag, 10. November 2020
It‘s beyond words...
Heute hatte ich im Lager 5 kleine übriggebliebene Schreibblöcke, 10 Bleistifte und 6 Spitzer mit. Wenn unser Van vorfährt warten schon immer einige Kinder auf uns um mit uns zu plaudern. Das ist offenbar der Höhepunkt ihres Alltags im Lager. Weil etwas weniger los war, habe ich die Schreibsachen unter den Anwesenden verteilt. Und ich konnte mir nicht vorstellen - und ich bin sicher , ihr könnt das auch nicht - wie sehr sich ein Kind über einen Block, einen Bleistift und einen rosa Spitzer freuen kann. Selten habe ich mich so beschämt, so mies, so fassungslos, armselig und traurig gefühlt wie heute. Ein lächerlicher Schreibblock ist für diese Kinder ein größeres Geschenk als für viele unserer Kids das neueste IPhone. Was sind unsere lächerlichen Sorgen schon im Vergleich zu denen, die hier schon kleine und kleinste Kinder haben?
Diese Kinder müssen um Essen bitten, um ein warmes Paar Schuhe, um Lächerlichkeiten wie einen Bleistift oder einen Schreibblock. Und dann wollen mir immer wieder Leute erzählen, dass es uns in Österreich doch auch nicht so gut ginge. How dare you?
Natürlich besorgen wir weitere Blöcke und wärmere Kleidung für den Winter und alles, was wir gemeinsam mit Home for all schaffen.
Aber damit dürfen wir uns einfach nicht zufrieden geben. Niemand, kein Kind auf dieser Erde soll so leben müssen! Niemand !!
Mein tägliches ceterum censeo: bitte setzt euch überall dort, wo ihr könnt, dafür ein, dass diese Schandlager so rasch wie möglich geräumt werden und die Menschen menschenwürdig untergebracht werden. Nicht jeder wird vielleicht Asyl verdienen oder benötigen, aber kein Mensch auf dieser wunderbaren Erde hat es verdient, so leben zu müssen.
Und bitte spendet weiterhin! Der Winter hat noch nicht einmal so richtig begonnen. Ich fürchte wir werden alle gemeinsam einen langen Atem brauchen. Wir sind für jede Hilfe unendlich dankbar und die Menschen hier haben es wahrlich verdient, dass man sie wie Menschen behandelt. Mehr wollen sie gar nicht.
Mittwoch, 11. November 2020
Manchmal fürchte ich, meine Posts könnten euch schön langsam langweilen. Weil auch unser Alltag auf Lesbos mittlerweile nahezu gleichförmig ist. Trotz ständig neuer Herausforderungen, die Teil der täglichen Katastrophe sind, die hier in Kara Tepe der traurige Alltag der Menschen ist.
10 Stunden auf den Beinen - zuerst der Versuch, aus Kleiderspenden aus der ganzen Welt, genau die Sachen zu finden, die am dringendsten benötigt werden. Irgendwas ist immer gerade nicht da. Mal die richtige Schuhgröße für ein Kind, dann die passende Jacke für einen jungen Künstler und Familienvater usw.
Dazwischen noch ein paar Bissen gegessen - für die Geflüchteten und für uns gab’s heute von Home for all ausgezeichnetes, selbstgemachtes Erdäpfelpürree mit Würsteln. Dann Essen einpacken und ins Lager um zu verteilen, dort dann Listen schreiben, wer gerade etwas ganz besonders dringend braucht. Alles ist (auch objektiv betrachtet) dringend. Die Schuhe für das entzückende Mädchen mit dem nahezu perfekten Englisch, das es im alten Camp Moria gelernt hat. Und natürlich auch jene für die schüchterne Kleine, die so rein gar nichts zu haben scheint, sich aber auch nichts zu sagen getraut.
Ich würde die Kinder am liebsten alle in den Arm nehmen, mit ihnen gemeinsam auf dem Schotterhügel neben unserem Van sitzen und ein Spiel spielen, aber Corona verhindert auch diese winzigen Zuwendungen. Statt dessen stehen wir maskiert mit Handschuhen vor ihnen und müssen sie immer wieder mal bitten, doch einen Schritt zurückzugehen. Die Kinder von Kara Tepe sind trotz allem offen, freundlich und und dankbar für jede noch so kleine Zuwendung. Und jeder „Helga Helga“- Ruf tut mir in der Seele weh, weil ich weiß, dass ich ihre größten Wünsche nicht erfüllen werde können. Ein Mädchen bittet mich seit Tagen ganz flehentlich um eine Barbie Puppe. Ihr sehnlichster Wunsch, der für uns in Wahrheit ein unlösbares Problem darstellt. Natürlich könnte ich eine Puppe kaufen. Oder 10. Oder sogar 100. Aber nicht 1000. Eine Barbiepuppe um ein Mädchen glücklich zu machen, würde bedeuten, 999 andere kleine Mädchen unglücklich zu machen.
Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass diese lächerlichen aber umso schmerzhafteren Alltagsprobleme der mehr als 8000 Menschen hier ganz leicht lösbar wären. Natürlich gibt es auf der Welt genug überzählige Barbiepuppen für kleine Mädchen, genug Schuhe für kleine Buben, mehr als genug Winterjacken für Männer und Frauen und genug Essen für mehr als eine Mahlzeit am Tag und natürlich auch genug warme und sichere Unterkünfte für alle.
Man müsste das nur wollen, dann könnte man das ganz leicht organisieren. Kara Tepe und die Lager auf den anderen griechischen Inseln oder auch die Zustände in Bosnien sind nichts anderes als eine Machtdemonstration unserer Regierungen, dass offenbar doch nicht alle Menschen gleich an Würde und Rechten geboren sind. Und so lange wir schweigend zusehen, wird sich daran wohl auch nichts ändern.
Darum: bitte schweigt nicht, bitte schaut nicht tatenlos zu, bitte toleriert die Unmenschlichkeit nicht.
Wir in Österreich leben in friedlichen Zeiten, aber können wir wirklich sicher sein, dass nicht unsere Enkel oder Urenkel einmal in so einem Elendslager aufwachen?
Aber wir können dagegen aufstehen und unsere Stimme erheben, wir alle gemeinsam, jeder Einzelne von uns! Wir müssen! Denn sonst wird sich auch nichts ändern.
Wann, wenn nicht jetzt?
Donnerstag, 12. November
Heute war es soweit, heute sind mir die Tränen einfach ungebremst runtergeronnen. Wir waren mit Nikos im alten Camp Kara Tepe und haben mehrere Gitarren eines Spenders von Home for all gebracht. Im alten Lager, das nur wenige hundert Meter neben dem neuen Lager liegt, gibt es Gitarrenunterricht für geflüchtete Menschen. Burschen und Mädchen aus Afghanistan, Syrien, dem Kongo musizieren dort mit riesiger Begeisterung gemeinsam. Engagierte Lehrer und Lehrerinnen unterrichten die jungen Leute, der Umgang miteinander ist respektvoll und freundlich. Es gibt eine kleine Bibliothek, Spielflächen fur die Kleinsten, einen kleinen Sportplatz für die größeren Kinder. In winterfesten, warmen und isolierten Containern leben rund 1200 Menschen. Alles wirkt blitzsauber und gepflegt, die Umgebung ist freundlich und menschlich. Flüchtling zu sein, ist auch hier sicher nicht einfach, aber es ist zumindest ein menschliches Leben in Würde.
Aber wisst ihr, was demnächst passiert? Das alte Camp wird mit 31. Dezember geschlossen und die Menschen müssen ins neue Lager übersiedeln. Das alte Camp wurde von der Gemeinde Mytiline betreut und offenbar finanziert, nun läuft der Vertrag aus und niemand will offenbar die Kosten für ein bestehendes, gutes Camp tragen. Statt dessen sollen die Menschen in ein unerträgliches Massenlager gepfercht werden.
„Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen“, hat unser junger Kanzler gesagt. Und die Verantwortlichen in ganz Europa tun das Ihre dazu, diese hässlichen Bilder selbst zu produzieren. Das ist der wahre Skandal!
Freitag, 13. November 2020
Ein riesiges DANKE an alle, die bisher gespendet haben und es noch tun werden. Dank eurer Menschlichkeit können wir die rund 8000 Menschen ( davon 57% Frauen und Kinder) zumindest ein klein wenig unterstützen.
Ich gebe zu, es fällt mir persönlich nicht leicht, immer wieder um Geld zu bitten. Aber es ist einfach so: wir brauchen eure Hilfe um helfen zu können. Wir kaufen Unmengen von Windeln, Nahrungsmittel, Gas, damit Home for all die wirklich köstlichen, gesunden Mahlzeiten zubereiten kann, Babyhygieneartikel, Schuhe, Masken, Socken für Kinder und Erwachsene, Winterjacken, Milchpulver und Brei für die Kleinsten, Salben, Schulsachen und sogar schon ein Paar Krücken. Und dann verpacken wir alles, sortieren gespendete Kleidung und fahren Tag für Tag ins Lager um so viel wie möglich zu verteilen. Derzeit dürfen nur einige wenige Organisationen ins Lager, fast niemand verteilt Schuhe oder Winterjacken. Wir werden es wahrscheinlich nicht schaffen, alle selbst zu versorgen - aber für die Menschen, denen wir täglich etwas bringen können, ist das oft überlebebensnotwendig. Egal, ob es der 18jährige Bursch ist, der gemeinsam mit 149 anderen in einem riesigen Zelt leben muss oder die Familie, die ihren Kindern feste Schuhe geben möchte.
Katerina und Nikos, die Gründer der NGO Home for all, leisten diese Arbeit inzwischen seit sechs Jahren. Tag für Tag, 365 Tage in jedem einzelnen Jahr. Dank eurer Hilfe können wir sie unterstützen und so gemeinsam weiter machen. So lange bis dieses Elendslager auf Lesbos endlich evakuiert wird! Das ist unser großes gemeinsames Ziel! Und so lange werden wir auch weitermachen! Jeder eurer Euros zählt und jeder Einzelne hilft mit, einem Kind ein Lächeln ins zaubern und einer Mutter das Herz ein klein wenig leichter zu machen!
Danke aus ganzem Herzen an euch alle!
Sonntag, 15. November 2020
„Sind so kleine Hände...“ immer wieder fällt mir diese Liedzeile ein, wenn ich durchs Lager gehe. Die Kinder von Kara Tepe sind Kinder wie alle anderen auch. Lausbuben, kleine Prinzessinnen, mit Träumen von Barbiepuppen oder Rennautos. Sie wollen Lehrerin werden, Ärztin, Architekt oder Mechaniker. Sie gehen in keine reguläre Schule, haben kaum ärztliche Versorgung, kein Bett zum Schlafen, keine Barbiepuppe, kein Rennauto. Ob Sie eine Zukunft haben, hängt nicht nur von ihnen ab, sondern wohl in erster Linie von uns allen. Die Kinder von Kara Tepe lachen, wenn sie uns sehen, freuen sich über einen Schreibblock und sind begeistert, wenn wir ein paar Minuten Zeit haben, mit ihnen zu spielen.
Aber die Kinder von Kara Tepe weinen nicht mehr. In all den Wochen, in denen wir hier sind, habe ich noch kein weinendes Kind gesehen.
Falls Ihr euch fragt, warum wir hier sind und versuchen mit Eurer Unterstützung unser Bestes zu geben: genau deshalb!
Montag, 16.November 2020
Wenn ich die österreichischen Newsseiten ansehe oder durch Facebook scrolle, dann lese ich in diesen Tagen unglaublich viel über Zusammenhalt, Gemeinsamkeit und Solidarität. Und dann frage ich mich, was genau bedeutet das? Wir sind mitten in einer Pandemie, Zusammenhalt kann nicht nur Zusammenhalt in Österreich bedeuten, damit kriegen wir vielleicht drei Gemeinden neben Hintertupfing coronafrei, nicht aber unsere Welt. Wir werden die Armut der Menschen nicht lindern oder bekämpfen, wenn wir immer nur dran denken wie schlecht es uns selbst gerade geht.
Und ich geb‘ zu, dass es mich oft sehr ärgert, wenn ich höre „ja, aber unsere Leut“. „Ja, aber unsere Obdachlosen.“ „Ja, aber die armen Tiere“.
Hinter jedem dieser „ja, Abers“ steckt dann meist ein Mensch, der gar nichts tut, sondern nur von Solidarität und Zusammenhalt schwafelt.
Aber dann freu ich mich gleichzeitig wieder, dass ich persönlich nur Menschen um mich habe, die verstanden haben, worum es geht. Entweder man liebt das Leben, dann gilt das für Menschen und Tiere, für Inländer und Ausländer, für glücklich in Österreich Geborene und genauso für Menschen mit Fluchterfahrung. Und dann weiß ich auch, dass wir das alles schaffen - können. Wenn wir nur zusammenhalten und den JaAbers einfach vorleben, dass das geht!
Dienstag, 17. November 2020
Lockdown in Griechenland macht auch das Leben im Lager nicht gerade einfacher. Wir warten Tag für Tag auf zugesagte Spendenlieferungen, mal fährt die Fähre nicht rechtzeitig, dann wieder stellt die Post nur unregelmäßig zu. Die meisten internationalen Helfer sind abgereist, weil sie sowieso nicht ins Lager dürfen, neue sollen derzeit auch nicht kommen bzw werden von den verbliebenen NGOs - zu Recht - nicht angenommen. Nichts wäre schlimmer, als wenn internationale HelferInnen Corona ins Lager oder auf die Insel bringen würden.
Zum Glück darf Home for all (und damit auch wir) mit einigen wenigen Volontären weiterhin direkt in Kara Tepe helfen! Die Versorgung der Kranken, vieler Babys, besonders bedürftiger Menschen ist somit weiterhin gewährleistet.
In diesen Tagen sind wir auch ziemlich damit beschäftigt, Winterpakete für Familien zusammenzustellen und zu verteilen. Eine Mammutaufgabe, aber wir halten durch. Auch weil Katerina und Nikos ein so großes Vorbild sind. In den vergangenen Jahren haben sie mit ihrem Team mehr als 3 Millionen Mahlzeiten zubereitet. Ohne Pause, an 365 Tagen im Jahr. Und sind immer dann und überall dort eingesprungen, wo andere Organisationen oft nicht weiter wussten. Wir sind sehr dankbar, dass wir mit euren Spendengeldern auch einen wichtigen Beitrag aus Österreich leisten können, dass Hilfe wirklich dort ankommt, wo sie gebraucht wird! Yes, we can!
Donnerstag, 19. November 2020
„My friend, my friend, I have no shoes. My friend look at my shoes. I need shoes. I need shoes for my baby.“
Und dann zeigen sie mir ihre durchlöcherten Crocs und die nackten Füße winziger Kinder. Und ich weiß, was immer wir hier auch tun, wir werden nicht ausreichend Schuhe haben oder verteilen können. Erstens weil lockdown ist und zweitens, weil auch Postpakete derzeit viel länger als sonst dauern.
Und dann frag ich mich, in welcher Welt wir leben, in der es weder Griechenland noch der EU noch UNICEF noch UNHCR noch dem IRK noch sonst jemanden möglich ist, lächerliche 8000 Menschen, davon Tausende Kinder, mit passenden Winterschuhen auszustatten. Echt jetzt? Das soll nicht zu schaffen sein?? Das soll die Aufgabe von lokalen NGOs sein, irgendwo in Europa Schuhe zu sammeln, zu bestellen, zu kaufen und dann mühseligst nach Lesbos zu schicken? Wir entwickeln selbstfahrende Autos, immer tollere Handys, immer sinnlosere Apps, aber wir können als europäische Gesellschaft keine 8000 Paar Schuhe innerhalb von ein paar Tagen auf eine europäische Insel bringen?? Im Wert von insgesamt vielleicht 120.000€? Dafür soll sich kein internationaler Sponsor finden, keine Airline (die wir mit Milliarden subventionieren), die das innerhalb von nicht einmal drei Stunden nach Lesbos bringen kann?
Aber was soll‘s. Interessiert offenbar niemanden, ob Menschen fast erfrieren. Daher machen wir weiter. Morgen so wie heute und übermorgen.
Freitag, 20. November 2020
Somewhere over the rainbow...
Was soll man sagen oder schreiben, wenn einem kleine afghanische Mädchen solch entzückende Zeichnungen und Briefe schenken, als Dankeschön für ein bissl gespendete Kleidung und Schuhe? Und einen Christbaum malen, den sie in Kara Tepe in einem zugigen Zelt ganz sicher nicht haben werden?
Auf Papier, das sie aus ihrem einzigen Block herausgerissen haben, den sie auch nur haben, weil ihr dafür gespendet habt.
Ich fühl mich so reich beschenkt und gleichzeitig so unendlich beschämt.
Und in Wahrheit gibt es dazu nur eines zu sagen. Kein Kind der Welt sollte im 21. Jahrhundert um Schuhe oder einen warmen Pullover bitten müssen. Nicht in Österreich, nicht in Griechenland, nicht in Afghanistan, nicht in Syrien, nirgendwo!
Und wenn in Österreich die (Regierungs)PolitikerInnen am Tag der Kinderrechte salbungsvoll daherreden, dann wäre es besser, sie redeten weniger und täten statt dessen endlich mehr. Von salbungsvollen Politikerreden ist noch kein Kind satt geworden.
Sonntag 22. November 2020
Heute habe ich lange überlegt, was ich euch überhaupt berichten soll. Die Situation im Lager Kara Tepe ändert sich nur langsam. Sehr langsam. Dass sie sich wirklich verbessert, kann ich gar nicht sagen. Immer öfter kommen verzweifelte Menschen und bitten um warme Kleidung und Schuhe. Und so viel wir auch vergeben, steht dann doch immer wieder ein Kind oder seine Mutter vor mir und zeigt auf sein kurzärmeliges shirt und die nackten Füße. Aber was sagt man einem Kind, wenn man weiß, dass man genau diese Größe jetzt nicht hat? Oder dass passende Jacken gerade aus sind?
Auf Grund von Corona sind nur wenige ehrenamtliche Helfer auf Lesbos. Was auch gut ist, da die Insel für Coronazahlen, wie sie leider in Österreich herrschen, noch viel weniger gerüstet ist, als das mitteleuropäische Festland.
Gleichzeitig würde gerade jetzt im Winter natürlich jeder Helfer, jede Helferin und jeder Cent so dringend gebraucht.
Die europäischen Länder könnten das Elend der Menschen hier viel schneller lindern oder beenden als es NGOs oder Ehrenamtliche jemals können werden. Aber so lange sie das nicht tun, bleibt ohnedies nur weiterzumachen. Unzulänglich, nie ausreichend, nie perfekt. Aber so gut wir eben können. Morgen kommt hoffentlich (hängt von der Fähre ab) ein großer LKW mit Sachspenden aus Österreich, organisiert von Georg Jachan. Und dann werden hoffentlich wieder ein paar Menschen ein bisschen weniger frieren. Dank euch!
Montag, 23. November 2020
Neue Coronaregeln im Lager. Hoffentlich nur vorübergehend dürfen noch weniger Personen gleichzeitig ins Camp Kara Tepe als bisher. Das heißt, dass wir zwar täglich ins Lager dürfen, aber nicht mehr alle gemeinsam. Aber die Hilfe von Home for all bleibt natürlich weiterhin aufrecht, schließlich gibt es auch mehrere großartige Helfer, die im Camp leben und die Verteilung der Mahlzeiten professionell übernehmen. Genau nach der Philosophie von Home for all: persönlich, direkt, freundlich und wertschätzend!
Und es gibt auch gute Nachrichten am heutigen Tag: der heiß ersehnte, von Georg Jachan organisierte Spendentruck ist endlich, endlich nach etlichen coronabedingten Verzögerungen auf Lesbos angekommen. Heute haben wir ein Lager leergeräumt, morgen können wir hoffentlich mit dem Entladen beginnen und dann hoffentlich recht bald mit der Übergabe von passenden Kleiderpaketen an Kinder, Familien und an möglichst viele, die jetzt schon soo dringend warme Sachen benötigen. Ich hab mich noch selten (also eigentlich noch nie) so sehr über die Ankunft eines riesigen LKW gefreut. Danke, danke, danke an alle, die das möglich gemacht haben!
Dienstag, 24.November 2020
Weihnachten kann auch schon am 24.November stattfinden. Heute haben wir rund 970 Weihnachtspackerl aus Österreich bekommen! Prall gefüllt mit warmer Bekleidung für groß und klein, Hygieneartikeln, Decken, Müsliriegeln, Handtüchern und noch vielem mehr. In dem riesigen Truck, den Georg Jachan dank eurer Hilfe nach Lesbos schicken konnte, waren auch noch 16 Rollstühle, medizinischer Bedarf und auch etliche heiß ersehnte Kinderwägen. Und dazu noch eine professionelle Brotschneidemaschine von Martina Egger für Home for all, die den Arbeitsalltag definitiv sehr erleichtern wird.
Ihr könnt euch meine Freude gar nicht vorstellen, dass wir das in den nächsten Tagen und Wochen alles direkt ins Lager zu den Menschen bringen können!
In griechisch-österreichisch-amerikanisch-afghanischer Zusammenarbeit haben wir heute gleich nach der Lieferung begonnen, uns einen Überblick zu verschaffen, zu sortieren und eure Spenden so zu schlichten, dass wir auch wirklich alles so rasch wie möglich finden und für die Menschen passend zusammenstellen können. Ein wunderbares Gefühl, wenn Menschen aus aller Welt für ein gemeinsames Ziel anpacken und zusammenhelfen. Eine bessere Einstimmung auf Weihnachten kann’s ja gar nicht geben!
Wir können damit natürlich längst nicht alle Menschen im Lager versorgen, aber vielen wird es ihr Leben hier erleichtern und viele Kinder werden endlich nicht mehr frieren! Dafür ein riesiges DANKE an alle, die dabei mitgeholfen haben!
Mittwoch, 25. November 2020
Lesbos, die Insel der verlorenen Träume....
Heute waren wir spät dran und sind erst bei völliger Dunkelheit zum und ins Lager gefahren. Alles, was am Tag schon schlimm genug ist, wirkt in der Nacht noch viel bedrückender.
Da ist zum Beispiel R., der von sich behauptet, er sei der einzige Flüchtling aus Bangladesch hier. Er „wohnt“ nach wie vor in den traurigen Überresten eines alten Wohnwagens neben dem alten Lager Moria. Seit mehr als 12 Jahren ist er hier, Asyl hat er keines bekommen, abgeschoben wird er aber auch nicht. Wenn es ihm schlecht geht, und das tut es oft, trinkt er viel. Eine Perspektive für sein weiteres Leben sieht er nicht. Ich auch nicht.
Oder Z., die kleine, 10jährige Schönheit aus Afghanistan. Ihre Träume: eine Barbiepuppe, ein Christbaum und ein bisschen Spielzeug für ihren kleinen, zweieinhalbjährigen Bruder. Ob sich irgendeiner davon heuer oder nächstes Jahr wohl erfüllen wird?
M. wünscht sich nichts mehr, als seine beiden Schwestern, die schon Asyl haben und in Athen leben, wieder sehen zu können. Ob er auch Asyl bekommt, steht noch in den Sternen. Zwischen Athen und Lesbos liegt ein noch unüberwindliches Meer aus Angst, Hoffnung und Verzweiflung.
H. ist Anfang 20, von seiner Religion hat er sich schon vor langer Zeit abgewandt. Er träumt von einem ganz normalen Leben. Von sonst nicht viel mehr. Arbeiten dürfen, sein schon sehr gutes Englisch weiter zu verbessern. Und wahrscheinlich auch davon, den Weihnachtsabend nicht mit 120 anderen Männern gemeinsam in einem Zelt zu verbringen. Aber das sagt er nicht. „It’s ok“, sagt er immer, wenn ich ihn frage, wie es ihm geht.
Nein, es ist ganz und gar nicht ok, dass noch immer zwischen 7500 und 8000 Menschen, darunter so viele Kinder, in zugigen Zelten auf steinigem Boden leben. Es ist nicht ok, dass Griechenland und Europa diese Menschen mit einer einzigen Mahlzeit am Tag abspeist, gerade so viel, dass sie nicht verhungern.
Und nein, es wäre ganz und gar nicht ok, wenn wir das alles schweigend einfach so hinnehmen. Wir hier und in Österreich können sicher nicht allen helfen, aber vielleicht können wir alle gemeinsam ein bisschen Hoffnung auf Lesbos bringen. Das wäre mein Wunsch. Weil ja jetzt bald die Zeit des Hoffens und des Wünschens beginnt.
Donnerstag, 26. November 2020
Weil ich in Gesprächen mit FreundInnen, Bekannten, JournalistInnen immer wieder feststelle, dass die meisten sich die Zustände im Lager Kara Tepe gar nicht vorstellen können, hier einfach eine möglichst nüchterne Zusammenfassung der Fakten.
Moria ist am 8. und 9. September abgebrannt, im Spätsommer.
Heute, am 26. November, im griechischen Frühwinter, gibt es noch keine funktionierenden Duschen.
Derzeit leben zw. 7500 und 8000 Menschen im Lager, 57% davon Frauen und Kinder.
Es gibt einige Wasserstellen, im Laufe des Tages bilden sich rundherum Lacken, Schlamm, Matsch, bis hin zu den Zelten in dieser Sektion.
Das Lager liegt direkt am Meer, die meiste Zeit bläst in Lesbos im Herbst und Winter heftiger und sehr kalter Wind.
Wenn es regnet, werden die Zelte zentimeterhoch überflutet.
Der Boden im Camp ist großteils (abseits der Wege für die Autos) nicht planiert. Er besteht aus Erde und Steinen.
Die Menschen im Lager erhalten vom offiziellen Catering eine einzige kleine warme Mahlzeit pro Tag.
Es ist offiziell verboten, selbst zu kochen.
Familien, kleine Kinder leben nach wie vor in dünnen Sommerzelten, die so niedrig sind, dass man nicht drinnen stehen kann. Normalerweise zwei Familien pro Zelt.
Als Schlafplätze fungieren Decken, dünne Matten, die über den steinigen Untergrund gelegt werden. Es gibt keine Matratzen oder gar Betten. So schlafen auch Neugeborene.
Alleinstehende Männer schlafen in Großzelten mit bis zu 150 Personen. In manchen davon gibt es Stockbetten.
Laut unseren Informationen wird angeblich an einer Stromversorgung gearbeitet, derzeit gibt es im größten Teil des Lagers keinen elektrischen Strom. Dabei geht es nicht nur um eine abendliche Beleuchtung, sondern auch darum, dass Mütter zum Beispiel keine vernünftige Möglichkeit haben um Wasser für Babybrei zu erhitzen.
Es gibt keine Spielplätze für Kinder. Keine Möglichkeit eines regulären Schulbesuchs. Natürlich auch keinen offiziellen Kindergarten.
Nahezu alle Menschen besitzen nur Sommerkleidung, so sie nicht das Glück hatten, von einigen wenigen NGOs etwas warme Bekleidung zu erhalten. Noch größer ist dieses Problem bei Schuhen und Socken, Tausende Menschen haben nur Flipflops oder löchrige Sandalen.
Hygieneartikel für Babys und Kleinkinder sind so gut wie nicht vorhanden.
Wäsche wird im Meer oder direkt vor den Zelten in kleinen Bottichen/ Schaffeln gewaschen.
Über die medizinische Versorgung kann ich als Laie nichts sagen. Aber: Nahezu täglich zeigen uns Menschen Fotos bzw ihre Kleinkinder mit schlimmen Hautkrankheiten. Wie es scheint, wird auch da der Großteil der Arbeit von NGOs übernommen, die sicherlich ihr Bestes geben.
Rund um das Lager sind Zäune mit Stacheldraht.
Einige 100 m vom neuen Lager Kara Tepe gibt es das alte Kara Tepe Camp für ca 1200 Menschen. Mit beheizbaren Wohncontainern, Kinderspielplatz. Sogar eine Musikschule und eine kleine Bibliothek wird dort von Ehrenamtlichen betrieben. Dieses Lager wird mit 31. Dezember geschlossen, die Menschen werden ins neue Lager übersiedelt.
Es gibt in Wahrheit keine Fotos, die das Elend hier beschreiben können. Und auch keine Worte. Mir fehlen sie jeden Tag, an dem ich ins Lager fahre.
Es geht nicht nur darum, dass diese Lager sofort evakuiert gehören. Es geht vor allem darum, dass es unter unserer Würde als Europäer und Europäerinnen ist, Menschen im Jahr 2020 in Europa so
leben zu lassen. Dies ist einfach nicht zu tolerieren. Keinen einzigen Tag lang!
Freitag, 27. November
Brauchen geflüchtete Kinder Schulbildung?
In Griechenland herrscht, genauso wie in Österreich oder im restlichen Europa, Schulpflicht für alle Kinder.
Tatsächlich für alle? Ganz und gar nicht! Für die geflüchteten Kinder auf Lesbos gibt es so etwas wie eine Schulpflicht oder einen offiziellen Bildungsauftrag nicht. „Schule“ findet in Zelten statt oder im Freien. Dann, wenn sich engagierte Freiwillige finden, entweder aus den Herkunftsländern der Kinder oder auch von internationalen NGOs. Und wenn nicht zufällig gerade das „Schulzelt“ einer verordneten „Camp-Umplanung“ zum Opfer fällt. Und es zufällig gerade ausreichend Papier und Bleistifte gibt. Die meisten „Lehrer“ sind unglaublich engagiert, aber natürlich keine ausgebildeten Pädagogen. Und manche NGOs sind womöglich, so eine griechische Hilfsorganisation heute in einem Post, leider auch zu sehr davon beseelt, den Kindern nicht nur Lesen und Schreiben beizubringen, sondern auch gleich den eigenen Glauben mitzuliefern.
Die meisten LehrerInnen, die selbst im Lager leben und unterrichten, sind mit vollem Einsatz und aus wirklicher Überzeugung dabei. Dank ihrem Engagement haben zumindest einige Kinder die Chance auf ein bisschen Bildung, auf eine Tagesstruktur und darauf, ein paar Stunden Schulkind zu sein. Dank eurer Spenden konnten wir immerhin schon mehrere Lehrer und Kids mit Blöcken, Bleistiften, Zeichenmaterial etc unterstützen.
Aber haben in Europa nicht alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft das Recht, in einem geschützten Raum etwas zu lernen? Durch Bildung eine Zukunftsperspektive zu erhalten? Einfach Kind zu sein?
Interessieren die Kinder von Kara Tepe und deren Zukunft tatsächlich niemand in Europa?
Samstag, 28. November
Es gibt auch immer wieder bessere Tage in Lesbos. Heute war so einer. Dank des österreichischen Spendentrucks konnten wir in den vergangenen Tagen nicht nur beginnen, mehr als 900 Schachteln zu sortieren, sondern auch damit, verstärkt persönliche Packages für die Menschen zu machen. Und nach der Ausgabe der Mahlzeiten auch direkt bei den Zelten zu verteilen. Das ist nicht viel und wieder nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber einige Menschen werden einfach in den nächsten Wochen ein bisschen weniger frieren.
Bei der Sortierung gab’s wieder eine österreichisch-amerikanisch-afghanische Zusammenarbeit. Ebenfalls ein schönes Gefühl, wenn Menschen unabhängig ihrer Herkunft einfach anpacken und zusammenarbeiten. Besonders berührend dabei: T.ist Arzt und gemeinsam mit seiner Familie aus Afghanistan geflüchtet. Am Vormittag hat er uns geholfen und nachmittags ist er jeden Tag im Klinikzelt im Lager und behandelt Kranke. Ich geb zu, ich bewundere täglich aufs Neue die Stärke vieler geflüchteten Menschen. Wo unsereins schon längst verzweifelt wäre, finden viele der Lagerbewohner noch immer Möglichkeiten andere zu unterstützen und so auch eine Perspektive für ihr eigenes Leben zu bekommen.
Heute hat mir auch ein kleines, vielleicht 12jähriges Mädchen von ihrer „Schule“ in einem Zelt erzählt und dass sie dort schon Hilfslehrerin ist. Was ihnen aber fehlt, sind Blöcke, Buntstifte etc. Ok, auch da werden wir - dank euch - ein bisschen helfen können.
Die Erfolge in einem Lager wie Kara Tepe sind klein, aber es gibt sie! Vor allem dank euch! Und weil Menschen zusammenhalten und andere in der Not nicht alleine lassen. Gegen alle Widerstände der Regierenden, gegen das Desinteresse der meisten und gegen die eigene Hilflosigkeit, die einen manchmal niederdrückt.
Ich wünsch euch einen schönen Advent mit allem, was dazugehört. Gemeinsam sind wir stark!
Sonntag, 29. November (1. Advent)
Wenn der Advent einmal ganz anders beginnt. Keine Kekse, kein Kerzenduft, kein Tannenreisig, kein Adventkranz. Aber viele Wünsche!
Ich träum' an diesem ersten Adventsonntag davon, dass Corona endlich vorbei ist und ich die Menschen im Lager Kara Tepe auch einmal ohne Maske sehen und anlächeln kann.
Ich träum davon, dass ich die wunderbaren, klugen, feinfühligen Kinder auch mal in den Arm nehmen kann. Ihnen zeigen, dass Europa sie nicht vergessen hat.
Davon, dass die unglaublich starke R. endlich ihre jüngeren Brüder in Wien in die Arme schließen kann. Ihr Transfer wurde längst von beiden Ländern bewilligt, Corona verhindert ein rasches Wiedersehen der kleinen, elternlosen Familie.
Ich wünsch mir, dass die Kinder von Kara Tepe endlich eine vernünftige Schulbildung und somit eine Zukunft bekommen. Und dass mir nicht 11jährige Mädchen erzählen müssen, sie seien die Lehrerin für die Kleinen, es fehle ihnen aber an Papier und Stiften. Dass ihre Eltern ihnen nicht erklären müssen, warum Frieden in Europa nur ein zugiges, kaltes Zelt auf nacktem Boden bedeutet.
Ich wünsche mir, dass es uns gelingen möge unsere Regierungen zu überzeugen, dass man Menschen einfach nicht unmenschlich behandelt. Ganz unabhängig davon, ob ihr Asylantrag positiv beschieden wird oder nicht.
Ich wünsche mir, dass wir den Mut und die Kraft jener Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, auch einmal erkennen und ihre Fähigkeiten für unsere gemeinsame Zukunft nützen und anerkennen.
Und mein allergrößter kleiner Weihnachtswunsch in diesem Jahr wäre, dass kein Kind und kein Erwachsener in Österreich, auf Lesbos, in ganz Europa den Winter ohne Schuhe und ohne warme Kleidung verbringen muss!
Montag, 30. November
So viele Menschen und Geschichten im Lager Kara Tepe und auf Lesbos. Die einen sind hier zu Hause, die anderen kommen freiwillig aus aller Herren Länder um zu helfen. Und die Dritten sind hier, weil sie ihre Heimat verlassen mussten. Weil Krieg und Terror herrschen oder die Not so groß war, dass es schlichtweg unmöglich ist, einer kleinen Familie das Überleben zu sichern.
Katerina und Nikos, dieses wunderbare Paar, das sich seit mehr als 6 Jahren mit ihrem großartigen Küchenteam um die Geflüchteten kümmert. Kein Problem ist zu groß oder zu klein, um nicht sofort nach einer Lösung zu suchen. Und fast immer auch eine zu finden.
Die verschiedenen Teams der Volunteers, die wir kennenlernen durften. Kitty und Arja aus den Niederlanden, Sarah, Lilly und Kathy aus Maryland, Alaska und Kalifornien, Susanne und Freddy aus Deutschland, „unser“ großes Team aus Afghanistan und alle unsere UnterstützerInnen aus Österreich - wir alle sind nur ein kleiner Teil eines Ganzen. Wir sind nur ein paar von vielen. Von jenen vielen Menschen auf der Welt, die wollen, dass andere Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe oder Religion fair und menschlich behandelt werden. Dafür setzen wir uns, gemeinsam mit euch, ein.
Auch wenn wir „nur“ Essen oder Kleider verteilen, Babys mit Windeln oder Creme versorgen, Schuhe aus aller Welt zu den Zelten bringen, Kinder mit einem kleinen Schreibblock oder einem Stofftier zum Lächeln bringen, ist es doch mehr, als alle unsere Politiker in Europa und allen anderen Kontinenten zusammenbringen. Darauf brauchen wir nicht stolz zu sein, unsere Politiker aber sollten sich schämen! Wo immer sie auf der Welt mit glänzenden Schuhen, maßgeschneiderten Anzügen und fürstlichen Gehältern in ihren geheizten Büros sitzen!