Helga Longin wurde am 23. April 2021 am Friedhof in Bruck an der Leitha beigesetzt. Wir haben dazu eine Rede verfasst, die nur ansatzweise beschreiben kann, was sie im Rahmen ihrer Tätigkeit für Unser Bruck hilft geleistet hat.
Da muss man ja was tun…
Das erste Mal erlebten wir Helga, als wir im September 2015 im Pfarrhof Bruck die Flüchtlinge betreuten, die bei stundenlangem Regen in Nickelsdorf an der Grenze standen. Einige engagierte Menschen kamen sofort zu dem Schluss, dass ein Notquartier eingerichtet werden musste, um es diesen Menschen zur Verfügung zu stellen.
Da muss man ja was tun…
Ohne zu zögern wurden von Helga Freiwillige organisiert, die mit ihren Autos hinfuhren, um die Familien mit Kindern nach Bruck zu holen, wo schon von ihr mit anderen Helfern Betten und Essen hergerichtet wurden. Helga kümmerte sich darum, dass genügend Kleidung von unserem damaligen Spendenlager, der ehemaligen Bruckneudorfer Erbsenfabrik, in den Pfarrhof geholt wurde. Es war ihr relativ bald bewusst, dass die Menschen, die jetzt bald hier eintreffen würden, nicht unsere Sprache sprechen und bat ein paar junge Männer aus einem naheliegenden Asylquartier, das Dolmetschen zu übernehmen.
Tagelang bildeten wir gemeinsam einen Schichtdienst, damit die Familien rund um die Uhr betreut waren. Als der letzte Bus Richtung Bahnhof fuhr, räumten wir gemeinsam das Notquartier, doch schon kam der nächste Hilferuf aus Parndorf. In der ASFINAG-Halle wurde ebenfalls ein großes Notquartier errichtet. Feldbetten, Matratzen, eine Hundertschaft von Decken mussten zu Betten vorbereitet werden. Per WhatsApp wurden wir verständigt, sobald die Menschen in Bussen nach Parndorf unterwegs waren. Sofort war Helga zur Stelle, um entweder selbst einkaufen zu fahren oder auch Leute zu organisieren, die das parallel übernehmen konnten. Immer wieder Bananen, Biskotten, Weißbrot, etc. etc.
Kistenweise brachten wir die Sachen in die Halle und verteilten diese mit Tee an die frierenden, hungernden, total erschöpften Geflüchteten.
Zu diesem Zeitpunkt waren in der Ölmühle, einem Asylquartier in Bruck an der Leitha, bereits 60 Männer einquartiert.
Wir fuhren stets gemeinsam hin und bereits beim Reingehen kamen uns viele Burschen und Männer mit den verschiedensten Fragen entgegen.
Da muss man ja was tun….
Helga kümmerte sich sofort um Arzttermine, darum, dass die Menschen genügend Infos und Antworten bekamen, und zwar mit Händen und Füßen und unter Zuhilfenahme der Männer, die auch Englisch sprechen konnten.
Dann kamen die ersten Ladungen zu Interviews. Das ist einer der wichtigsten Momente für einen Menschen, der vor Krieg und Verfolgung geflohen ist. Und in so einer Situation kann man diese Menschen nicht alleine, sich selbst oder einem Beamten überlassen.
Da muss man ja was tun….
Helga übernahm gleich die ersten, um sowohl als Chauffeur als auch als Vertrauensperson zu dienen. Stundenlang, manchmal bis zum späten Nachmittag saß sie dann mit den Leuten in Traiskirchen bei ihren Interviews.
Nach den ersten positiven Asylbescheiden war uns relativ bald klar, dass unser Engagement keine Eintagsfliege sein kann. Was passiert mit all den Kindern, die mit ihren geflüchteten Müttern und Vätern nach Österreich kamen? Bei uns gibt es eine Schulpflicht.
Da muss man ja was tun….
Helga hat sich, ohne zu zögern mit allen Direktoren und Direktorinnen in allen Schulen in Bruck, von der Volksschule bis zur HAK, zusammengeschlossen und so wurde für jedes Kind die passende Schulstufe gefunden. Die Kleinsten wurden auf die Kindergärten aufgeteilt. Helga war Ansprechperson für alle Schulen und so rückte sie immer wieder aus, wenn es wieder mal Handlungsbedarf gab.
Irgendwann, nach einem unserer Treffen bei Helga zu Hause und zu sehr später Stunde, es war gegen 24 Uhr, bekam Helga einen Anruf. Ein Tierarzt aus der Umgebung, der Helga noch von früher kannte, als sie im Tierheim tätig war, teilte mit, dass er in der nächsten halben Stunde mit 26 Welpen ins Tierheim kommen werde.
Auch da muss man ja was tun….
Helga überlegte keine Sekunde und es war selbstverständlich, sich auch darum zu kümmern. Wir fuhren gleich darauf hin, nahmen die Hundebabys in Empfang und halfen bei der Erstversorgung. Um 3 Uhr in der Früh waren dann alle erledigt und fuhren zufrieden und rechtschaffen müde nach Hause.
Egal ob Mensch oder Tier. Wenn jemand Hilfe brauchte, war Helga sofort zur Stelle. Da gab es kein langes Überlegen, sie hat einfach getan, was getan werden musste. Egal ob um 8 Uhr in der Früh oder um Mitternacht.
Spätestens als die ersten positiven Asylbescheide kamen, war uns allen klar, dass dieses Projekt nicht 2015 zu Ende sein kann. Es mussten Wohnungen gefunden werden, unzählige Formulare für die Mindestsicherung, Familienbeihilfe und Kinderbetreuungsgeld ausgefüllt, AMS-Termine mussten eingehalten werden, etc…
Da muss man ja was tun….
Helga war eine Expertin, wenn es um Behörden ging. Man konnte sie alles und jederzeit fragen. Sie wusste genau, wann was zu tun war, hatte immer die richtigen Kontakte und das alles 24 Stunden lang. Doch es kam schon mal vor, dass sie nicht sofort weiterwusste. Das war für sie allerdings kein Grund, hier aufzugeben und das Handtuch zu schmeißen. Genau solche Situationen spornten sie sogar noch mehr an. Sie hat sich wie ein Pitbull ans Telefon gehängt und nicht losgelassen, bis sie eine zufriedenstellende Antwort erhielt.
Es gibt viele Dinge zu beachten, die für eine halbwegs erfolgreiche Integration erfüllt werden müssen. Das Erlernen der deutschen Sprache war und ist immer noch einer der bedeutsamsten Grundbausteine für diesen Erfolg. Alle Kinder, die mittlerweile ihr erstes Schuljahr abgeschlossen hatten, verzeichneten zwar eine steile Lernkurve innerhalb des Schuljahres, uns war allerdings bewusst, dass zwei Monate Ferien ohne Deutsch hier ein kleiner Rückschlag sein konnten.
Da muss man ja was tun….
Helga hatte also die Idee einer Summerschool, in der Kinder in den Sommerferien, egal welche Altersklasse, für drei Wochen spielerisch Deutsch lernen und dabei auch noch Spaß haben konnten. Es wurden Theaterstücke einstudiert, gemeinsam Lieder gesungen, ein Lagerfeuer gemacht, Wanderungen veranstaltet. Alles was so dazu gehören würde, wäre man ein Kind, das in Österreich aufgewachsen ist, das aber den vor Krieg geflohenen Kindern niemals zur Verfügung stand.
Das Spendenlager in der Erbsenfabrik hatte ich schon mal erwähnt. Es diente zu Beginn einer Akutversorgung für all jene Menschen, die mit zerschlissenen Kleidern bei uns ankamen, die keine vernünftigen Schuhe mehr hatten. Diese Zeit war irgendwann vorüber, es gab keinen neuen Zustrom von Flüchtlingen, aber war deswegen der Bedarf an essenziellen Dingen weniger geworden? Mitnichten…
Da muss man ja was tun….
…und zwar für alle Menschen, die es benötigen, unabhängig von ihrer Herkunft, waren Helgas Worte: „Egal, ob diese Menschen Asyl haben oder ganz einfach nur arm oder unverschuldet in eine Notlage geraten sind.“ Seitdem betreiben wir in der Fischamender Straße in Bruck an der Leitha einen Shop, in dem sich sozial bedürftige Menschen, jeden Samstag Kleidung, Schuhe, Hausrat und sogar Möbel abholen können.
Und auch wenn die Flüchtlingsfamilien nach und nach mit wichtigen Dingen des Lebens und Wohnungen versorgt waren und selbst dazu beigetragen hatten, sich in Österreich einzurichten und einzuleben, war einem Menschen wie Helga mit Weitblick und Draufsicht klar, dass ihre Arbeit hier noch nicht zu Ende sein konnte. Weil viele Frauen mit kleinen Kindern nach 2 Jahren noch immer keinen Deutschkurs besucht hatten und Helga nicht dauernd bei irgendjemand Kaffee trinken konnte, war klar:
Da muss man ja was tun….
Es wurde das Projekt „Mama lernt Deutsch“ auf die Beine gestellt. Gemeinsam mit Vereinskollegen und Freiwilligen wurde der Ort im Keller des Wohnhauses des evangelischen Pfarrers organisiert und bis zum Lockdown im März 2020 folgten einige Treffen.
Hinter die Fassade blicken und Menschen, denen sie bisher möglicherweise verwehrt waren, beizubringen, was Menschenrechte im praktischen Leben bedeuten und dass alle Menschen gleich an Wert und Würde behandelt werden müssen. Immer, egal wo und wieviel Kraftanstrengung es erforderte. Helga war diejenige, die keine Ruhe gegeben hat und ihr Umfeld mitgerissen hat, auch wirklich etwas zu tun. Für die Menschlichkeit, für Zusammenhalt, für sozialen Frieden und Gerechtigkeit.
Und dann kam Lesbos. Mehr als 8000 Frauen, Männer und Kinder werden aus politischem Kalkül jeglicher Menschenwürde beraubt: verdorbenes Essen, kaum Möglichkeit zur Körperhygiene, kein Schutz vor Nässe und Kälte, kaum ärztliche Versorgung.
Da muss man ja was tun….
Also flog sie vergangenen Herbst spontan mit Doro Blancke nach Lesbos, um den Menschen nach dem Brand im Lager Moria zu helfen. Sie haben beide mit ihrem Einsatz und ihren Berichten der Zivilgesellschaft ein Ventil eröffnet, sinnvoll etwas zu unternehmen, um das Leid der Menschen zu lindern.
In Österreich wurden insgesamt 110 Tonnen Hilfsgüter (von Doro Blancke, dem Wandel und Helga) gesammelt und mit Lastwägen nach Lesbos geschickt.
Helga, ohne Pause - sortieren - kochen - ins Lager fahren - mit den Menschen sprechen - Bedürfnisse erfragen - abends Berichte und Kommentare schreiben - Interviews geben.
Letzen Sonntag wollte sie wieder nach Lesbos aufbrechen, Helga wurde schon ungeduldig erwartet,
…aber sie konnte es nicht mehr tun….
Unsere Navigatorin ist tot, aber sie hat uns den Kompass hinterlassen und der zeigt den Weg, um Helgas Projekte weiterzuführen.
„Da muss man ja was tun“
Wie oft hören wir und denken wir genau diesen Satz
Helga Longin hat diesen Satz nicht zu einem Lippenbekenntnis verkommen lassen. Sie hat getan, und zwar immer aus vollem Herzen, mit dem größten Einsatz und immer mit einer Perspektive und einer Aussicht auf eine bessere Zukunft.
Sie ist eine Inspiration und ein Leuchtturm für so viele Menschen auf dieser Welt, auch weit über ihren Tod hinaus. Sie hat ein Vermächtnis hinterlassen und den Aufruf an uns alle, diesen Satz nicht einfach für sich stehenzulassen, sondern Taten folgen zu lassen.
Also tun wir etwas…